Julia, Du hast viele Jahre den Verlag für Kindertheater geleitet. Woran erinnerst Du Dich besonders gern?
Am besten gefallen haben mir die vielen unterschiedlichen Inszenierungen, die ich mir landauf, landab ansehen durfte. Fasziniert haben mich dabei immer die Reaktionen der Kinder auf das, was ihnen geboten wurde: Vom gnadenlosen Ausbuhen bis hin zum tobenden Applaus war alles dabei. Immer herrlich unverfälscht und ehrlich. Kinder sind einfach das beste Publikum, das man sich vorstellen kann.
Wir stehen in der Verlagsgruppe Oetinger in einer großen, wunderbaren literarischen Tradition. Welche Werte und welches Verständnis von Kindheit sind für Dich als Verlegerin – ob im Buch oder Theater – aus diesem reichen Erbe noch heute besonders wichtig und gültig?
Die Kindheit bedeutet im bildlichen Sinn, seine Wurzeln auszustrecken und sie fest im Boden zu verankern, damit einem im späteren Leben auch starke Stürme nichts anhaben können. Es sind die prägendsten Jahre für ein ganzes Leben. Was wir den Kindern mitgeben müssen, sind grundsätzliche Werte wie Liebe, Empathie, ein Empfinden für Gut und Böse und das Gefühl, ernst genommen und gehört zu werden. Es geht letztlich darum, die Kinder empathisch und stark zu machen, und die Grundlagen zu legen für späteres Handeln im Sinne dieses Wertekanons.
Ich habe unlängst einmal wieder „Gretchen Sackmeier“ von Christine Nöstlinger gelesen und ihre kleine (zu Unrecht weitgehend vergessene) Erzählung „Das Leben der Tomanis“. Man bekommt fast rote Ohren beim Lesen: Welche Radikalität und Offenheit in der Kinderliteratur einmal möglich war! Fehlen solche Stimmen heute in der Kinderliteratur? Oder gehen sie einfach nur unter und werden in der Presse zu wenig berücksichtigt?
Die Radikalität und Offenheit hat heute sicherlich abgenommen, was allerdings weniger an der Kinderliteratur an sich liegt, sondern vielmehr an gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen. Kinderliteratur ist immer auch Spiegel der Zeit. Gerade in den siebziger und achtziger Jahren war mehr Revolte und Auflehnung gegen konservative und vielfach eingefahrene Muster zu spüren. Auch ein Aufbegehren gegen die Elterngeneration, der man z.T. noch vorwarf, Krieg und Schuld nicht vollständig aufgearbeitet zu haben.
Zur Zeit haben wir derart viele Krisenherde auf der Welt, dass wir einen Trend zu Spaß- und Achtsamkeitsthemen beobachten und leider machen wir auch zunehmend die Erfahrung, dass Autoren mit einer „Schere im Kopf“ schreiben müssen, da sie immer Gefahr laufen, mit ihrem Text irgendwo anzuecken und einen Shitstorm zu riskieren. Das macht es deutlich schwieriger, radikal und offen gesellschaftliche Zustände zu kritisieren.
Was sind Deine inhaltlichen Schwerpunkte für die Verlagsgruppe Oetinger in den nächsten Jahren?
Die Zeit ist so unfassbar schnelllebig geworden, dass ich inhaltlich nicht mehrere Jahre im voraus planen kann. Zur Zeit ist es mir aufgrund der gesellschaftlichen Entwicklungen besonders wichtig, dass wir weg kommen von verhärteten Frontenbildungen: Diskurs, Toleranz und Mut zur Meinungsäußerung sowie ein ausgeprägtes Demokratieverständnis liegen mir am Herzen.
Im Moment machen wir gerade auch aufgrund der Macht von sozialen Medien die Erfahrung, dass sich diejenigen überproportional Gehör verschaffen, die am lautesten schreien, aber oft eine Minderheit darstellen. Ich setze mich dafür ein, dass nicht derjenige, der am lautesten schreit, die Welt nach seinem Gusto verändert, sondern dass es dafür nach wie vor Mehrheiten braucht, denn das ist die Basis der Demokratie.
Dein Vater Uwe Weitendorf hat den Verlag für Kindertheater gegründet und entscheidend geprägt. Durch sein Geschick haben wir ein festes Fundament und können unser Verlagsgebäude seitdem ausbauen und ausschmücken. Welchen neuen „Raum“ wünschst Du Dir darin noch für die Zukunft?
Zum Glück lebt ein Haus und verändert sich ständig. Neue Räume braucht es gar nicht unbedingt, sondern nur den Mut zur Veränderung. Das heißt, dass ein Raum nicht immer bleiben muss, wie er ist. Vielleicht wird er digitaler, vielleicht muss man ab und an die Dekoration verändern, die Fenster putzen, damit man einen besseren Blick hat von innen nach außen und umgekehrt. Es wird immer um die Vermittlung von Geschichten gehen, egal ob im Buch, als Film, auf der Bühne, ob mit Musik oder ohne, ob mit großem Brimborium oder ausschließlich mit sprachlichen Mitteln. Doch eines dürfen wir dabei nie aus dem Blick verlieren: für wen wir Theater machen und warum. Wir müssen die Kinder ernst nehmen und nie aufhören, ihnen Hoffnung und Mut zu machen.
Julia Bielenberg leitete nach dem Tod Uwe Weitendorfs 1996 die Geschicke des Verlags für Kindertheater. Seit 2017 ist sie die Geschäftsführerin und Verlegerin der Verlagsgruppe Oetinger.
Foto © Patrick Ludolph